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Im Tal der U-förmigen Kurve: »Wellness« von Nathan Hill

Buch: Wellness von Nathan Hill

»Jedes Paar hat eine Geschichte, die es sich selbst erzählt«. Jedenfalls so lange, wie beide an sie glauben. In Nathan Hills »Wellness« gerät die Ehe von Elizabeth und Jack unter den Druck der Midlife-Crisis. Die Partner werden zerrieben zwischen ihren eigenen Ansprüchen, Fremdinteressen und Selbstoptimierungswahn. Isa Tschierschke findet, der Roman ist ein Meisterwerk im Stil der großen US-Gesellschaftsportraits von Philip Roth, T. C. Boyle und Tom Wolfe.


»Kommst du?«


Elizabeth und Jack wohnen einander direkt gegenüber. Die Gasse in Chicago, die ihre beiden Wohnungen trennt, ist so schmal, dass tagsüber das Sonnenlicht nicht den Boden erreicht. Eine Distanz, die man »mit einem beherzten Sprung« überwinden könnte. Aber monatelang beobachten die beiden Erstsemester vom Land einander nur. Wenn Jack, Kunststudent von einer Farm in Kansas, denkt, dass Elizabeth ausgegangen ist, sitzt sie in der dunklen Wohnung und betrachtet ihn beim Arbeiten. Sie sieht sein immer gleiches Armer-Künstler-Outfit und seine Tattoos und kommt zu dem Schluss: »Ich könnte damit leben.«

Wenn Elizabeth, etwas ziellos in vielen Fachrichtungen studierende Tochter aus reichem Haus, sich unbeobachtet fühlt, ist sie das nicht, denn hinter Jacks Fenster sitzt er im Dunkeln und verfolgt, wie sie sich einrichtet und offensichtlich Wert auf Stil legt. »Sie ist eine Frau, die Teppiche kauft.«. So weit, so süß.

Chicago
»Die Gasse ist dunkel und still und wetterlos. Sie ist scheinbar ohne jede Atmosphäre, eine in die Stadt gestickte Leerstelle mit dem einzigen Zweck, Dinge von anderen Dingen zu trennen – wie der Weltraum«

Dass Jack rund um die Uhr fokussiert arbeitet und sie ignoriert, wenn sie sich auf der Straße begegnen, führt Elizabeth zu der Annahme, dass er ein unabhängiger Freigeist sei, der sie nicht brauche. Eine Fehleinschätzung. Gleichzeitig entwickelt Jack seine eigene Fehleinschätzung von Elizabeth, die er Jahrzehnte später so formuliert: »Was mich zuerst zu Elizabeth hinzog, war wohl ihre Energie. […] Ihre ganze Ausstrahlung. […] Sie war einfach so ein kluger, interessanter, unbeschwerter, entspannter Mensch, für jeden Spaß zu haben, abenteuerlustig.«

Als er nach Monaten doch einmal spontan die Führung übernimmt und das Wort an sie richtet (»Kommst du?«), werden diese ersten Eindrücke im Rausch der zu entdeckenden Seelenverwandtschaft nicht mehr genauer angesehen. Bis das Paar 20 Jahre später von ihnen eingeholt wird. An dem Punkt, den man früher als Midlife-Crisis bezeichnete.

Zuviel verlangt

Jack und Elizabeth sind »im Tal der U-förmigen Kurve«. In den Vierzigern, wenn die Anforderungen des Alltagslebens an einem zerren und die Fülle an Aufgaben und Verantwortlichkeiten überwältigend scheint. Bei der U-Variante der Lebenskurve gehen Wissenschaftler davon aus, dass der westliche Mensch sich mit 20 noch stark und inspiriert fühlt und erst mit 60 ein erneutes Hoch winkt.

Als alle ihre Freunde anfangen, Kinder zu bekommen und in schickere Stadtteile zu ziehen, wird Sohn Toby geboren und verändert die Beziehung massiv. Zu dem Karrieredruck kommt nun die Sorge um Tobys Gedeihen und Erziehung und der gesellschaftliche Wettbewerb in Sachen Lifestyle, der zunehmend auf Social Media stattfindet.

Jack und Elizabeth lassen sich von einem befreundeten Makler überreden, ihre gesamten Rücklagen in ein Gentrifizierungsprojekt mit dem sprechenden Namen »The Shipworks« zu stecken. Ein Traumwohnungsprojekt, das sich wenig später als sinkendes Schiff herausstellt.

Placebo


Schon als Studentin arbeitet Elizabeth an einem verhaltenspsychologischen Institut, das die Wirkweise von Placebos erforscht. 
Als Werbeindustrie und Wirtschaftsunternehmen Interesse an den Forschungsergebnissen anmelden, wird aus dem kleinen Uni-Institut die Firma »Wellness« und Elizabeth die Geschäftsführerin. So hat sie trotz der Mutterschaft den größeren Anteil am gesellschaftlichen Aufstieg der kleinen Familie. Jack hingegen arbeitet als Lehrbeauftragter mit Zeitverträgen an der Uni und hat einen unterirdischen »Impact Score« im Internet.

Chicago
Der Yuppie-Traum der Neunziger: in Downtown das Geld verdienen für ein Loft am Lake Michigan.

Alle von Elizabeths Kundinnen bei »Wellness« sind von ihrer Middle-Class-Existenz überforderte Frauen im mittleren Alter. Die meisten sind enttäuscht von ihrer Ehe und, um sie zu retten, geneigt, der Wirkung von Pillen zu vertrauen, die keine Wirkstoffe enthalten, sondern nur durch die Narrative wirken, die Elizabeth in den Patientengesprächen mit ihnen verknüpft.

Angesichts des Leidensdrucks ihrer Klientel redet Elizabeth sich die zweifelhafte Mission von »Wellness« schön: »Man konnte, sagte sie sich, jemandem ein synthetisches Opioid verabreichen oder ein so überzeugendes Placebo, dass es das Hirn dazu brachte, seine eigenen natürlichen Opioide freizusetzen – und war das nicht für alle besser?«

I wish my wife did that


Da Placebos nur wirken, wenn man nicht weiß, dass es welche sind, kann Elizabeth zur Wiederbelebung ihrer Ehe nicht auf die eigene Forschung zurückgreifen. Als sie die Software-Ingenieurin Kate kennenlernt, berichtet ihr diese von ihrem Konzept der Polyamorie, das einer Ehe auf lange Sicht überlegen sei.

Kate behauptet, jedes Paar werde »auf der niedrigsten Ebene von einem grundlegenden Betriebssystem gesteuert«. Und die Konsequenz dieser Denkweise ist natürlich das Update bzw. der Ersatz für den veralteten Code. Ihr Partner Kyle (einer von dreien, denn Kate ist eine »Switcherin«), handelt mit Krypto-Währungen. Kate versucht Elizabeth den Besuch eines Swinger-Clubs schmackhaft zu machen. Anstelle von »wahllosem Rumvögeln«, erklärt sie, ginge es bei der Polyamorie um die »Maximierung von Wertschöpfungssynergien«.

Als Jack sich tatsächlich zum Besuch des Clubs überreden lässt, fragt Kate ihn nach seinen sexuellen Vorlieben. Ausweichend behauptet er, ein »Allesfresser« zu sein, erinnert sich aber an eine Kategorie von Pornos unter der Rubrik »I wish my wife did that«, für die er sich von jeher am meisten interessierte.

Jahrelang macht er sich deshalb Selbstvorwürfe, kommt aber irgendwann zu dem Schluss, dass »es gar nicht die Schwachheit oder die Servilität sein konnte, die ihn erregte.« Die schwachen Frauen in seinem Leben, allen voran seine verbitterte Mutter, behandelten Männer mit Verachtung und ließen ihre Umgebung unter Schuldgefühlen leiden. »Nein, was Jack interessierte, war diese Fröhlichkeit, diese Begeisterung« der Frauen in den Videos. Er sah »Menschen, die so selbstbewusst waren, dass sie es ertragen konnten, in diesem Augenblick servil zu sein, ein bisschen Spaß daran zu haben, einige Minuten lang objektifiziert zu werden, ohne sich zerrüttet zu fühlen.« Jack teilt diese Erkenntnis mit Elizabeth, die seine These jedoch als Versuch der Rechtfertigung für eine »widerliche Männerfantasie« abtut.

Zum Glück gibt es in diesem Kapitel auch jede Menge Comic Relief. Irre witzig sind z. B. die detailreichen Schilderungen der bürokratischen Formalitäten vor Eintritt in den Swingerclub. Eine Unterschriftenorgie, die sicherstellen soll, dass die Inhaber juristisch nicht wegen Prostitution belangt werden können.

Wer Gesellschaftssatiren à la T. C. Boyle oder Tom Wolfes »Fegefeuer der Eitelkeiten« (1998) mag, wird »Wellness« gleich zweimal lesen wollen. Nicht nur wegen der unterhaltsamen Groteske, sondern weil einige Motive und Andeutungen erst im Nachhinein ihre volle Bedeutung entwickeln, z. B. Jacks heftige Abneigung dagegen, einen offenen Kamin in die neue Wohnung einbauen zu lassen.

Das Gift der Wohlmeinenden

Was »Wellness« zum großen Gesellschaftsroman macht, ist, dass nicht nur die innere Verfasstheit der Hauptfiguren präzise hergeleitet wird, sondern auch ihre Umgebung. Das soziale Umfeld als Faktor, der immer maßgeblich dazu beiträgt, ob ein Liebespaar Erfolg hat oder untergeht, hat in »Wellness« besonders großen Einfluss auf die Handlung.

Während die Kommunikation zwischen den Ehepartnern immer schwieriger wird, tauchen von überall Menschen auf, die sich brennend für ihre Geschichte interessieren. Es beginnt eine Zeit, in der beide nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander sprechen können. Sie reden mit Therapeuten, ehemaligen Arbeitgebern, Freund:innen und Verflossenen.

Duale Schlafzimmer

Sogar der Immobilienmakler, ein cleverer Schwätzer und langjähriger Freund des Paares mischt sich massiv in ihre Intimsphäre ein. Er schlägt »duale Elternzimmer« vor, damit im Falle einer (in der westlichen Welt recht wahrscheinlichen) Scheidung die neue Traumwohnung, in die Elizabeth und Jack investiert haben, nicht gleich wieder aufgegeben werden muss.

Chicago
Avantgarde-Architektur gehört zur DNA von Chicago. In der Mitte: das dreieckige Metropolitan Correctional Center von 1973. Ein 28-stöckiges Gefängnis mit Basketball-Court auf dem Dach.

Jack ist völlig vor den Kopf gestoßen, dass Elizabeth die Idee von getrennten Schlafzimmern begrüßt: »Haben wir doch sowieso schon«, sagt sie im Hinblick auf die Ausweich-Schlafplätze in ihrer bisherigen Wohnung seit Tobys Geburt. Die größte Bedrohung für Jacks und Elizabeths Ehe entsteht nicht durch klassisches Auseinanderleben im Alltag, sondern durch die Zersetzungskraft von Menschen, denen sie vertrauen. Die haben allesamt nicht das befreundete Paar, sondern ihre eigenen Interessen und Wunschvorstellungen im Blick oder frönen ihrer Lust an der Lenkung anderer Leute Schicksale. Jack und Elizabeth fehlt es an Zeit und Kraft, all diese Einflüsterungen sorgfältig zu prüfen.

»Ich wünschte, wir hätten zusammen aufwachsen können«



Ob es noch eine gemeinsame Basis gibt, müssen die beiden schließlich mit sich alleine ausmachen. Jack tut das auf der Fahrt zur Beerdigung seines Vaters in Kansas. Es ist eine Reise zurück in seine dunkelsten Erinnerungen. Die Konfrontation mit der Prairie-Landschaft seiner Kindheit liest sich ganz in der Tradition der großen US-amerikanischen Naturkulissen für menschliches Drama. Am Schauplatz seiner Kindheit vermutet Jack die Ursache für das, was Elizabeth ihm vorwirft: »Du bist wie eine Gefühls-Hydra, Jack. Du bist ein bodenloses Loch der Bedürftigkeit.«

Jack und Elizabeth verbindet trotz der Herkunft aus unterschiedlichen Schichten die emotionale Mangelwirtschaft in ihren Ursprungsfamilien. Jack leidet darunter, dass sein Vater ihn weitgehend ignoriert und seine Mutter ihn regelmäßig wissen lässt, dass er mit seiner Kränklichkeit eine Belastung für sie ist und eigentlich gar nicht am Leben sein sollte. Trost und etwas Halt findet er bei seiner großen Schwester.

Evelyn ist eine ungewöhnlich begabte Malerin und kann mit wenigen Pinselstrichen einem Motiv Leben einhauchen. In den wenigen kostbaren Stunden ihres ungestörten Beisammenseins beim gemeinsamen Malen versucht Jack, jedes Motiv detailgetreu abzubilden. »Du musst es atmen lassen«, rät seine Schwester ihm. Seine Kontrollfixiertheit zu kontrollieren wird ihm sein Leben lang nicht gelingen, aber um Evelyns willen bewirbt er sich am Art Institute in Chicago und entwickelt dort eine abstrakte Foto-Technik, die ihm fortan erlaubt, seine seelische Wunde in aller Öffentlichkeit auszustellen, ohne dass jemand sie sehen kann. Auch Elizabeth nicht, die sich irritiert fragt, warum Jack über Jahrzehnte das gleiche Motiv bearbeitet.

Beim Wiedersehen mit seiner Mutter wird Jack klar, dass sie ihm eine lebenslange Schuld aufgebürdet hat, die nicht seine ist. Als er sie damit konfrontiert, verteidigt sie sich: »Ich hätte doch nie wieder in die Kirche gehen können.«, aber Jack hält zum ersten Mal dagegen:  »Ich war neun!«

Chicago
Reminiszenz an die Agrar-Tradition des Mittleren Westens: Maiskolben-Parkhaus in Marina City.

Die nächste Generation, Toby, wächst als Einzelkind heran. Vom Kolik-Baby wird er zum mäkeligen Esser, verweigert schon im Kindergarten den Kontakt zu Spielkameraden, gilt in mehreren Vorschulen, die seine Eltern ausprobieren als »problematisch« und beginnt in der Grundschule obsessiv Minecraft zu spielen.

Elizabeth reagiert auf Tobys Entwicklungsauffälligkeiten, indem sie neueste Forschungsergebnisse zu frühkindlicher Neurophysiologie auswertet und einschlägige Studien an ihm ausprobiert. Unabsichtlich wiederholt sie mit ihrer verkrampft-rationalen Herangehensweise die Gefühlskälte der vorangegangenen Generationen.

Die Patriarchen ihrer Herkunftsfamilie leben seit vier Generationen vom Narrativ des Self-Made Millionärs, während die Frauen, die den finanziellen Erfolg flankieren, nicht in der Lage sind, ihre Kinder vor der Impulsivität der Väter zu schützen. In wenigen sicheren Sätzen demontiert Hill mit diesen Nebencharakteren gleich noch den Mythos der amerikanischen Meritokratie.

Perfekt


Während Jacks Trauma nachvollziehbar wirkt, scheint Elizabeths »Ur-Knacks« weniger zwingend und die Leserin bekommt den Eindruck, als solle Elizabeth aus Gründen der Geschlechter-Gerechtigkeit mit einem traumatischen Moment ausgestattet werden, weil Jack auch einen hat. Die symmetrische Konstruktion wirkt zu angestrengt. »Wellness« ist Jacks Geschichte. Er ist der weitaus dreidimensionalere Charakter als Elizabeth, obwohl Hill den Instagram-Druck, der auf Mittelschicht-Müttern wie ihr lastet, virtuos darstellt.

Ausgerechnet das anstrengende Nölkind Toby erlöst seine unentspannte Mutter durch ein Machtwort und schaut dafür sogar kurz von seiner Minecraft-Challenge auf: »du entschuldigst dich ständig für irgendwas, aber ich habe keine Ahnung, wieso. […] Du bist einfach perfekt.«

Versuchen, das »sich entfaltende Chaos zu umarmen«

Gegen Ende wird’s etwas pathetisch, aber auch sehr wahr. Der Erzähler findet klare Worte für die Optionen, die wir haben. Wir können uns »für die Gewissheit entscheiden oder für die Lebendigkeit«. Eine Lebendigkeit, die auf Intuition vertraut und mit der eine Geschichte erfunden wird, an die beide glauben können. Echte Liebespaare »sind Alchimisten und Architekten; Pioniere und Fabulierer; sie machen das eine zum anderen. Sie erfinden die Welt um sie herum«.

Nach Jacks Rückkehr aus Kansas sind er und Elizabeth um einige Masken und Schutzmechanismen erleichtert. Sie sind, jeder für sich, zu den Räumen vorgedrungen, in denen kein Selbstbetrug und kein Sich-Verstecken möglich ist. Die Frage, wie es weitergehen soll, ist zu einer wesentlich existenzielleren angewachsen: »Wärst du jemals imstande, jemand so Kaputten, so Erbärmlichen wie mich zu lieben?«

Nathan Hill; Dirk van Gunsteren (Übersetzung); Stephan Kleiner (Übersetzung): Wellness: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. Piper. ISBN/EAN: 9783492072144. 28,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Nathan Hill; Dirk van Gunsteren (Übersetzung); Stephan Kleiner (Übersetzung): Wellness: Roman. Kindle Ausgabe. 2024. Piper ebooks. 24,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Nathan Hill; Uve Teschner (Sprecher); Dirk van Gunsteren (Übersetzung); Stephan Kleiner (Übersetzung): Wellness: Roman: 3 CDs. MP3 CD. 2024. Osterwoldaudio. ISBN/EAN: 9783869525983. 20,40 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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