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Bachmannpreis-Rückblick 2024: Baumarkt und Berufsschule

Die Bachmannpreis-Jury 2024 (von links): Laura de Weck, Philipp Tingler, Mara Delius, Thomas Strässle, Klaus Kastberger, Mithu Sanyal und Brigitte Schwens-Harrant (Foto: Tischer)
Die Bachmannpreis-Jury 2024 (von links): Laura de Weck, Philipp Tingler, Mara Delius, Thomas Strässle, Klaus Kastberger, Mithu Sanyal und Brigitte Schwens-Harrant (Foto: Tischer)

»Wie war der Jahrgang?«, lautet die abgedroschene Frage nach jedem Bachmannpreis. Mehr oder weniger bemüht sucht man dann nach Gemeinsamkeiten der Texte. Und dennoch ist der Gewinner 2024 ein typischer Bachmanntext, wie ihn die Jury seit Jahren mag. Das Drama des »Bewerbs« fand in diesem Jahr wieder einmal an anderer Stelle statt.

Nachrückende europäische Kriege im Text

Fotografen und Gewinner nach der Preisabstimmung (Foto: Tischer)
Fotografen und Gewinner nach der Preisabstimmung (Foto: Tischer)

Der Text »Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde« und sein Autor Tijan Sila bringen biografisch und thematisch alles mit, was bereits in den Vorjahren Gewinner auszeichnete: ein Autor aus dem osteuropäischen Raum, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, und verhandelt wird eine persönliche familiäre Erfahrung, bei der idealerweise Tod und Krieg eine Rolle spielen. All das traf in diesem Jahr auch auf die »Drittplatzierte« (Kelag-Preis) Tamara Štajner zu, wenngleich ihre Erzählweise konventioneller und direkter war als bei Tijan Sila. »Krieg geht immer«, lautet oft die Gewinnformel, wenngleich der Zweite Weltkrieg erzählzeitlich immer schwerer zu erreichen ist, wie der Text von Jurczok zeigte. Die nachrückenden europäischen Kriege wandern daher vermehrt in die Texte.

Natürlich kann man den Tod als Klammer vieler Texte sehen, doch da Literatur oft Existenzielles verhandelt, ist der Tod im Text nicht ungewöhnlich. Es muss ja nicht immer die eigene Oma sein.

Johanna Sebauer
Johanna Sebauer (Foto: Tischer)

Johanna Sebauer lockerte in diesem Jahr mit ihrem sprachlich überzeugenden satirischen Text »Das Gurkerl« Publikum, Jury und Wettbewerb auf, aber Humor, und sei er noch so gut gearbeitet, sieht selten den ersten Platz. In diesem Jahr aber 3sat- und Publikumspreis, was Sebauer in Preissumme gemessen (7.500 plus 7.000) sogar auf den zweiten Rang bringt.

Ein ungewöhnlicher Preisträger hätte dem Wettbewerb gutgetan

Es hätte dem Wettbewerb des Jahres 2024 gutgetan und neue Sympathien gebracht, wäre ein ungewöhnlicher, »jüngerer« und experimenteller Text unter den vier Jury-Preisen gewesen. Das Miedya Mahmod nach den Preisrängen griff wie Leonardo di Caprio nach der schwimmenden Tür der Titanic, um dann ebenfalls dramatisch und traurig im Meer der Nicht-Gewinner unterzugehen, war das Drama der 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur.

Wieder einmal sorgte der Abstimmungsmodus am Sonntag für Unbehagen, und er bleibt die Transparenz-Schwachstelle beim Bachmannpreis. Eigentlich ist ja alles klar und übersichtlich: In einer verdeckten Abstimmung vergeben die sieben Jury-Mitglieder für ihre fünf Favoriten fünf bis einen Punkt. Für die Texte der selbst Eingeladenen darf dabei nicht gestimmt werden. Dann wird zusammengezählt und die Gewinnertexte stehen fest. So waren bereits nach dem ersten Wahlgang der Hauptpreis und der Deutschlandfunk-Preis eindeutig ermittelt, auf Rang drei waren jedoch punktgleich gleich drei Teilnehmende, aber es waren nur noch zwei Jury-Preise zu vergeben.

Das unschöne Spiel der Abstimmung

Bachmannpreis-Texte vor dem ORF-Studio (Foto: Tischer)
Bachmannpreis-Texte vor dem ORF-Studio (Foto: Tischer)

Das unschöne Spiel begann damit, dass diese drei Namen (Johanna Sebauer, Miedya Mahmod und Tamara Štajner) nun für die Stichwahl aufgedeckt wurden. Damit war zum einen vorab klar, dass diese drei nicht die beiden ersten Preise bekommen würden und – schlimmer noch -, dass ein Name hinten runterfallen würde. Zwei Stichwahlen beförderten schließlich Tamara Štajner und Johanna Sebauer auf die Plätze und Miedya Mahmod ging unter. Natürlich gehen statistisch gesehen immer 10 von 14 Texten unter, doch kurz namentlich unter den theoretisch Platzierten zu sein, war schon bitter.

Völlig berechtigt wurde darüber diskutiert, ob ein Text wie der von Miedya Mahmod ohne den brillanten Vortrag überhaupt überzeugt. Der Text allein sei nur eine schwer zu lesende Partitur, so die Jury, und die Qualität scheine erst bei der akustischen Interpretation auf. Eine beim Bachmannpreis nicht neue Diskussion, und dennoch hätte es der medialen Aufmerksamkeit und der Anknüpfung an ein jüngeres Publikum gut getan, wenn Miedya Mahmod zumindest die unteren Preisränge erreicht hätte.

Berufstätige Schreiber aus dem Volk

Es ist angerichtet: Die Köche beim Empfang des Bürgermeisters anlässlich der 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Foto: Tischer)
Es ist angerichtet: Die Köche beim Empfang des Bürgermeisters anlässlich der 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Foto: Tischer)

Blickt man auf die beiden Gewinner Tijan Sila und Denis Pfabe – seit 2017 hat zum ersten Mal wieder ein Mann den Wettbewerb gewonnen –, kann man zumindest hier eine ungewöhnliche Gemeinsamkeit feststellen: Beide haben zwar schon literarische Erfolge vorzuweisen und Tijan Silas letztes Buch wurde bereits im Literarischen Quartett besprochen, doch beide Autoren kommen nicht aus dem üblichen Literaturbetrieb.

Immer wieder wird bemängelt, dass es beim Bewerb zu viel »Institusprosa« gäbe, dass allzu oft Absolventen der »Schreibschulen« von Hildesheim, Leipzig oder Biel vertreten seien, die zudem eine hohe Zahl an Stipendien im Lebenslauf aufzählen.

Doch diesmal haben ein Berufsschullehrer für Deutsch und Englisch (Tijan Sila) und ein Mann, der für seinen Lebensunterhalt drei Tage im Baumarkt arbeitet (Denis Pfabe), die beiden ersten Preise gewonnen. Schreibende aus dem Volk.

Und das ist doch ein wohltuendes Anti-Klischee des Bachmannpreis-Jahrgangs 2024.

Wolfgang Tischer

Korrektur: In einer früheren Version des Beitrags war zu lesen, dass Philipp Tingler das Buch »Radio Sarajevo« von Tijan Sila beim Literarischen Quartett vorgestellt hätte. Tingler nahm zwar an dieser Sendung teil und wurde spätestens sicherlich hier auf den Autor aufmerksam, vorgestellt hatte das Buch jedoch Jagoda Marinić. Die Textstelle wurde gelöscht. Vielen Dank für den Hinweis in den Kommentaren.

Die Preisträger:innen des Jahres 2024

Die Statue für den Hauptpreis: die Inge
Die Statue für den Hauptpreis: die Inge

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2 Kommentare

  1. Kleine Korrektur: Im literarischen Quartett vom 1.12.2023 wurde der Roman “Radio Sarajevo” nicht von Philipp Tingler, sondern von Jagoda Marinić vorgestellt. Möglicherweise wurde Herr Tingler dadurch aber auf Tijan Sila aufmerksam. Tingler brachte “Der Komet” von Durs Grünbein ein.

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