
Seit 1998 gab es im literaturcafe.de den literarischen Adventskalender mit »24 Ausschnitten aus 24 nie geschriebenen Romanen«. Doch nach 27 Jahren wird es ihn in diesem Jahr nicht mehr geben. In den Zeiten von ChatGPT hat das literarische Spiel um angebliche Textstellen aus Romanen seinen Reiz verloren.
Schon seit vielen Jahren sind Online-Adventskalender zur Gewinnspiel-Seuche verkommen, die lediglich zur Datengewinnung dienen. Fast kein Adventskalender mehr ohne Verlosungsversprechen.
Nie mehr »24 Ausschnitte aus nie geschriebenen Romanen«
Mit unserem literarischen Adventskalender hatten wir immer dagegengesetzt. Hier gab es nichts zu gewinnen, höchstens ein Schmunzeln oder leichte Verwirrung. Mit dem Untertitel »24 Ausschnitte aus nie geschriebenen Romanen« präsentierten wir 27 Jahre lang vom 1. bis zum 24. Dezember Ausschnitte aus vermeintlichen Romanen, die es jedoch nie gab. Auch die erfundenen Titel, die Namen der Autorinnen und Autoren und die der Übersetzer waren Teil des Spiels. Durch den Untertitel eigentlich offensichtlich, freuten wir uns immer wieder, wenn bisweilen Verwirrung herrschte und einige Besucherinnen und Besucher gerne das Buch bestellen wollten, um es ganz zu lesen.
Der Adventskalender war zudem die kleine literarische Schreibaufgabe zum Jahresende für unser Team. Wenige Worte, vielleicht zwei oder drei Absätze sollten einen Roman, ein Genre oder eine Situation skizzieren. Der vermeintliche Textausschnitt musste nicht abgeschlossen sein und sollte im besten Falle für die, die die digitalen Türchen öffneten zum Lächeln oder Nachdenken bringen oder zur Inspiration verhelfen.
Immer wieder gab es in all den Jahren die Überlegung, ob man nicht auch einmal ein kleines weihnachtliches Geschenkbüchlein veröffentlichen sollte mit mittlerweile »600 Ausschnitte[n] aus 600 nie geschriebenen Romanen«.
Doch dann kam die KI, dann kam ChatGPT.
»Schreibe 24 fiktive Romanausschnitte …«
Zugegeben: Bereits im letzten Jahr juckte es uns in den Fingern, mal einen Text nicht selbst zu erfinden, sondern prompten zu lassen: Schreibe einen fiktiven Romanausschnitt. Der Ausschnitt soll in sich nicht geschlossen oder sinnvoll abgeschlossen sein. Das Genre ist nicht vorgegeben. Es kann nur ein Satz sein oder maximal 2 Absätze. Gerne auch mit Dialogen, was aber keine Voraussetzung ist. Erfinde dazu auch Titel und den Namen der Autorin oder des Autors.
Und natürlich könnte man den Prompt beginnen: »Schreibe 24 fiktive Romanausschnitte …«, und man hätte sofort alle Texte eines Jahrgangs zusammen.
Doch selbst, wenn man dies nicht tut, sondern sich weiterhin 24 Ausschnitte selbst ausdenkt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass im Jahre 2025 viele die Ironie des Projektes nicht verstehen und sagen: »Was ist das? Hat das eine KI geschrieben?«
Und tatsächlich haben wir den Prompt mal eingegeben, und ChatGPT gibt das Folgende aus:
Der Hahn krähte, obwohl es längst Mittag war, und Anna sah dem Tropfen zu, der sich am Ende des rostigen Wasserhahns sammelte, vibrierte und fiel. Unten stand das Glas, halbvoll, halb leer, je nachdem, wie sehr man an Rückkehr glaubte.
»Wenn du gehst, nimm wenigstens die Schlüssel mit«, sagte sie ohne aufzusehen.
Er stand schon in der Tür, eine Hand an der Klinke, als müsste er sich vergewissern, dass sie sich noch bewegen ließ.
»Vielleicht«, sagte er, und die Tür blieb offen.
Aus »Das Gewicht des Wassers« von Clara Voss
Natürlich merkt man dem Text an, dass ihn die KI geschrieben hat: die seltsame Beschreibung des vibrierenden Tropfens, die pseudo-literarisch-philosophische und dennoch abgegriffene Betrachtung von halb leer und halb voll und der typische ChatGPT-Vergleich für die banalsten Handlungen (»als müsse er sich vergewissern …«).
Dennoch ist das Ergebnis nicht schlecht genug, um uns dieses Jahr erneut für den Adventskalender zu motivieren.
»Die KI hat nun auch unseren literarischen Adventskalender zerstört«, könnte man pathetisch titeln, aber selbst das wäre fast ChatGPT-gleich zu hoch gegriffen.
Gewisse Dinge hatten ihre Zeit. Das kann man bedauern. Erst recht nach 27 Jahren. Aber so ist es nun mal.
Wolfgang Tischer


Liebes Team von Literaturcafe,
das ist das erste Mal, das ich einen Kommentar hinterlasse, und das obwohl ich euch auch schon mehr als zwanzig Jahren folge.
Auf euren literarischen Adventskalender habe ich mich jedes Jahr gefreut. Ich werde ihn vermissen.
Viele Grüße Birgit
Liebes Team vom Literaturcafe.
Vielleicht ist das Ende nach 27 Jahren auch ein Neuanfang.
Etwas, was man ChatGPT und Co eventuell gegenüberstellen kann? Oder indem man dieses Werkzeug benutzt?
Zum Beispiel: Welcher Text ist von euch und welchen hat die KI kreiert?
KI wird auf dem Autorenmarkt (und auch der der anderen Künstler) nicht mehr wegzudenken sein. Es bleibt die Frage, wie wir damit umgehen sollen/wollen.
Lieben Gruß Yvonne